Der
Mythos Inannas oder Ischtars Gang in die Unterwelt reflektiert die altorientalische
Vorstellung von dem ewigen Dualismus Tod und Wiederkehr. Die Dichtung ist
auf sumerisch und auf babylonisch überliefert. Er umspannt somit eine
mindestens 1000-jährige Überlieferungsgeschichte.
Die sumerische
Version
Inanna, hehre
Göttin des "Grossen Oben", hat alles erreicht, was zu erreichen war:
sie hat Mann und Sohn und ist Herrin in den ihr zugewiesenen Städten
Uruk, Badtibira, Zabalam, Adab, Nippur, Kisch und Akkad.
Der Mythos
beginnt unvermittelt mit ihrem Verlangen nach dem "Grossen Unten". "Sie
setzte ihren Sinn nach dem 'Grossen Unten'," heisst es. Sie will Himmel
und Erde verlassen und in die Unterwelt hinabsteigen. Sie legt all ihren
königlichen Ornat an, die heiligen ME*, ihr Diadem, Perücke,
Messleine und Ring aus Lapislazuli, ein Lapislazulihalsband, einen goldenen
Fingerring, eine Gewandnadel, ein Festgewand, Lidstrich für die Augen.
Bevor sie in
die Unterwelt hinabsteigt, bittet sie ihren Boten Ninschubur, zu Enlil
nach Nippur zu gehen und um ihr Leben zu bitten. Falls Enlil ihn nicht
anhören wolle, solle er zu Nanna nach Ur gehen. Falls auch der nicht
bereit sei zu handeln, solle er nach Eridu zu Enki gehen.
Inanna geht
daraufhin zur Unterwelt. Sie kommt am ersten der sieben Tore zum Palast
aus Lapislazuli in der Unterwelt an.
Ein Torwächter
will sie nicht einlassen. Warum sie denn zum "Land ohne Wiederkehr" gekommen
sein, will er wissen. Sie antwortet: "Der Ehemann meiner Schwester Ereschkigal
(= die Herrin der Unterwelt) ist gestorben. Ich komme zu seinem Begräbnis."
Sie könne nur eingelassen werden, wenn sie sich den Gesetzen der Unterwelt
unterwerfe, antwortet er. Sie ist damit einverstanden.
Daraufhin muss
sie ihre Krone abgeben. So geht sie durch alle sieben Tore und verliert
nach und nach ihre Schmuckstücke, das Gewand und die Symbole ihrer
Herrschaft. Am Ende steht sie nackt vor Ereschkigal und den sieben Richter-Göttern,
den Anunnaki. Sie schauen sie an mit dem Blick des Todes.
Inanna ist
tot und wird wie ein lederner Wassersack an einen Haken an die Wand gehängt.
Unterdessen eilt ihr Bote zu Enlil, der aber nur meint, dass Inanna selbst
schuld sei an ihrer jetzigen Lage. Ebenso reagiert Nanna. Enki dagegen
ist sehr betrübt und verspricht zu helfen. Er formt zwei Wesen, den
Kurgarru** und den Kalaturru** und bringt beide zum Leben, indem er ihnen
Brot des Lebens zu essen und Wasser des Lebens zu trinken gibt. Sie werden
von Enki instruiert, wie sie sich zu verhalten haben und in die Unterwelt
entsandt.
Dort liegt
Ereschkigal und ist krank. "Ihre Haare hängen herab wie Lauchstangen,"
und sie stöhnt: "Meine Seite, meine Seite." Der Kurgarru und der Galaturra
beruhigen sie mit sanften Worten. Sie fühlt sich daraufhin so wohl,
dass sie bereit ist, ihnen eine Bitte zu erfüllen. Sie möchten
nur den ledernen Wassersack, der da am Haken hängt, sagen sie.
Als sie ihn
in Händen halten, besprengen sie ihn 60mal mit dem Brot und Wasser
des Lebens. Inanna kommt wieder zu sich und kann der Unterwelt entfliehen.
Aber Inanna
wird von grässlichen Dämonen verfolgt, die unbeirrbar sind und
unerbittlich. Sie brauchen weder Speise noch Trank, rauben dem Mann die
Ehefrau, das Kind von der Brust seiner Amme. Sie verlangen Ersatz für
die zu den Lebenden zurückkehrende Inanna.
Inanna trifft
als erstes auf ihren Boten Ninschubur, der sich ihr zu Füssen wirft.
Er hatte um sie getrauert und wird deshalb auf die Intervention Inannas
hin von den Dämonen verschont. Danach geht Inanna nach Umma und Badtibira,
wo die Götter Schara und Latarak sich ihr zu Füssen werfen. Beide
trauerten um sie und werden ebenfalls verschont.
Sie kommt schliesslich
in ihre eigene Stadt Uruk, in den Bezirk Kullab. Dort erlebt sie, wie Dumuzi,
ihr Gemahl, der Gott der Vegetation, weder trauert noch sich ihr zu Füssen
wirft. Im Gegenteil, er hat sich auf ihren Thron gesetzt und feiert lustig.
Inanna ist so wütend darüber, dass sie ihren dämonischen
Begleitern Dumuzi überlässt.
Dumuzi kommt
in die Unterwelt. Dumuzi bricht in Tränen aus und fleht zu Utu, dem
Sonnengott. Es ist wahrscheinlich, dass Dumuzis Schicksal so geregelt wurde,
dass er jeweils ein halbes Jahr auf der Erde und ein halbes in der Unterwelt
zuzubringen hat. Deshalb gibt es Frühjahr und Herbst. |