Sumerische Frau

Der Fall einer Ehefrau, die verdächtigt wurde, mit ihrem Geliebten gemeinsame Sache beim Mord an ihrem Mann gemacht zu haben, kam im 20. Jahrhundert v. Chr. vor das Gericht der Stadt Isin und die angesehenen Richter der Stadt Nippur. Seit der Gelehrte Thorkild Jacobsen diesen Fall 1959 erstmalig veröffentlichte, hat er immer wieder in der altorientalischen Fachliteratur Interesse gefunden.

Der Fall verhielt sich wie folgt:

Drei Männer töteten einen Priester namens Lu-Inanna. Nachdem sie seiner Frau von dem Mord erzählt hatten, schrie sie nicht laut auf, sondern schwieg still darüber. Das machte sie verdächtig. Man argumentierte im nachfolgenden Prozess, dass sie auch an dem Mord beteiligt gewesen sein müsse, wenn sie ihn geheimhielt. Deshalb wurden die drei Männer, deren Schuld an keiner Stelle in Zweifel gezogen wurde, und die Ehefrau des Ermordeten zum Tode verurteilt.

Der Fall in deutscher Übersetzung mit Kommentaren auf der rechten Seite ist wie folgt auf verschiedenen Keilschrifttafeln überliefert:

 
 

Nanna-sig, Sohn des Lu-Suen,
Ku-Enlila, Sohn des Ku-Nanna, der Barbier,
und Enlil-ennam, Sohn desAdda-kalla, der Gärtner,
ermordeten Lu-Inanna, Sohn des Lugal-uru, den nischakku-Priester.

Personen werden immer mit Vornamen und Vatersnamen und/oder Beruf identifiziert.

Nachdem Lu-Inanna, Sohn des Lugal-uru, tot war, erzählten sie Nin-dada, Tochter des Lu-Ninurta, Ehefrau des Lu-Inanna, dass ihr (Ehemann) Lu-Inanna ermordet worden sei.
Nin-dada, Tochter des Lu-Ninurta, öffnete nicht ihren Mund; sie hielt dies geheim.

Die Mörder erzählten also Nin-dada vom Tod ihres Ehemannes.

Ihr Fall wurde nach Isin vor den König gebracht.
Ur-Ninurta befahl, den Fall von der Versammlung von Nippur verhandeln zu lassen.

Ur-Ninurta war König von Isin in den Jahren 1923-1896 v. Chr. Isin war ein kleines, aber zu der Zeit recht einflussreiches Königtum in Babylonian.
Nippur war das religiöse Zentrum Babyloniens.

Ur-gula, Sohn des Lugal-ibila,
Dudu, der Vogelfänger,
Ali-ellati, der muschkenu,
Puzu, Sohn des Lu-Suen,
Eluti, Sohn des Tizqar-Ea,
Scheschkalla, der Töpfer,
Lugal-kam, der Gärtner,
Lugal-azida, Sohn des Suen-andul,
und Scheschkalla, Sohn des Schara-HAR,
sprachen (zur Versammlung):

Ein muschkenu war ein Angehöriger einer sozialen Klasse, die aus Abhängigen der Krone bestand.

Neun Männer von mittlerer sozialer Stellung sprechen zur Versammlung von Nippur. Ihr Verhältnis zum Ermordeten oder zur Ehefrau des Ermordeten ist unklar.

"Weil sie Männer sind, die einen Mann umgebracht haben, dürfen sie nicht am Leben bleiben; diese drei Männer und diese Frau sollen vor dem Stuhl des Lu-Inanna, Sohn des Lugal-uru, des nischakku-Priesters, hingerichtet werden,"
sagten sie.

Die Exekution sollte vor dem Symbol des Priesteramtes des Ermordeten erfolgen.

Schuqalilum, der ERIN-GAL-GAL der Infantrie des Ninurta, und Ubar-Suen, der Gärtner, sprachen dann (zur Versammlung):

Diese beiden Männer verteidigen als einzige Nin-dada, die Ehefrau des Ermordeten.
ERIN-GAL-GAL ist eine Art militärischer Rang, Ninurta der Gott des Ackerbaus und des Krieges.

"Nin-dada, Tochter des Lu-Ninurta - vorausgesetzt dass sie ihren Mann ermordete -, wie sollte eine Frau das anstellen, so dass man sie zum Tode verurteilt?" fragten sie.

 

In der Versammlung von Nippur antworteten sie und sprachen so:

"Sie" sind wahrscheinlich die neun Männer, die zuerst das Urteil aussprachen.

"Eine Frau, die ihren Mann nicht wertschätzte, hatte sicherlich ein Verhältnis mit einem Fremden. Er liess dann ihren Ehemann ermorden. Wenn er sie dann wissen liess, dass ihr Mann getötet worden sei - warum sollte sie in Bezug auf ihn nicht den Mund halten? Sicher war sie es, die ihren Mann ermorden liess. Ihre Schuld ist grösser als die derjenigen, die den Mann umbrachten, " sagten sie.

Hier wie auch im Kodex Hammurabi § 153 wird angenommen, dass eine Ehefrau an der Tötung ihres Ehemannes nur beteiligt ist, wenn sie einen Geliebten hat.

Anscheinend konnten sich die Männer keinen anderen Grund für die Schweigsamkeit der Frau vorstellen, als dass sie schuldig war.

Nachdem die Versammlung von Nippur dies beschlossen hatte, wurden
Nanna-sig, Sohn des Lu-Suen,
Ku-Enlilla, Sohn des Ku-Nanna, der Babier,
Enlil-ennam, Sohn des Adda-kalla, der Gärtner,
und Nin-dada, Tochter des Lu-Ninurta
      und Ehefrau des Lu-Inanna,
zum Tode verurteilt.

(Vermerk:) Ein Fall vor der Versammlung von Nippur.

 
Eine Übersetzung des sumerischen Textes ins Englische findet man bei J.J. Finkelstein, in: James B. Pritchard, Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, 3rd edition, Princeton - New Jersey 1969, S. 542.